Claus Goedicke öffnet (…) Falltüren. Er fotografiert Dinge, denkt an Menschen. „Unsere Stimme ist in der Kartoffel“, sagt er, „in den Schuhen, im Kalender, im Bleistift.“ (…)
Besonders wichtig ist ihm eine bestimmte Erinnerung. Wie er, schon erwachsen, bei seiner betagten Großmutter in der Küche steht, um Kaffee zu kochen, frühmorgens. Was dort eigentlich nicht seine Aufgabe ist. Wie er, Enkel Claus, die Kaffeemaschine in Betrieb setzen will.
Wie die Tür aufgeht und die Großmutter hereinkommt, in Nachthemd, Strickjacke, in Pantoffeln, die Haare noch nicht gerichtet und ihre dritten Zähne noch nicht im Mund. Wie er ihr einen guten Morgen wünscht, wie fassungslos sie ist über das Ertapptwerden ohne diese Prothese, wie es ihr nicht gelingt, ohne ihr Gebiss seinen Gruß zu erwidern, wie sie die Tür wieder schließt, mit einer heftigen Plötzlichkeit, die er noch nie bei ihr erlebt hat.
Was es jetzt noch gibt von der Großmutter, sind diese Zähne, die sie zu einer Person machten im hohen Alter, ohne die sie nicht mehr sprechen, nicht mehr grüßen konnte oder wollte. Die naturgetreue Prothese einer oberen Zahnreihe. Zahntechniker haben sie angefertigt, mit ihrem Werkzeug und ihren zu komplexem Handwerk fähigen Händen. (…) Es wurde Teil ihrer Identität. Unverzichtbar. Später, nicht mehr benötigt, hat die Prothese auf einer Marmorplatte gelegen und diese unter der Plattenkamera. Sie musste dort liegen, im diffusen Licht, als ein Kapitel der Geschichte, die Claus Goedicke erzählt.
aus: Christoph Ribbat, Claus Goedicke, Fotograf der Dinge
erschienen in Dinge, Verlag Schirmer/Mosel, 2017